Sich die Augen ausweinen nach Klgl 1,16 und Klgl 2,11
In den Klageliedern Jeremias klingt einer der tiefsten Schmerzgesänge der Bibel. Dort heißt es:
„Darum weine ich; meine Augen, meine Augen fließen von Wasser; denn fern ist von mir, der mich trösten und mein Leben erquicken könnte“ (Klagelieder 1,16).
Und an anderer Stelle: „Meine Augen sind erloschen vor Tränen, mein Inneres ist ganz aufgewühlt, mein Herz ist zerrissen wegen des Untergangs der Tochter meines Volkes“ (Klagelieder 2,11).
Diese Worte sind Ausdruck einer Trauer ohne Trost. Der Dichter beschreibt, wie Jerusalem nach der Zerstörung am Boden liegt – verwüstet, verlassen, gebrochen. Das Bild der „ausgeweinten Augen“ steht für eine Verzweiflung, die so tief ist, dass selbst die Tränen versiegen. Es gibt keine Kraft mehr, keine Worte – nur das Weinen bleibt.
„Sich die Augen ausweinen“ ist deshalb mehr als ein sprachliches Bild. Es beschreibt jenen Punkt menschlichen Leidens, an dem der Schmerz den ganzen Menschen ergreift – Herz, Geist und Körper. Die Augen, durch die man sonst das Leben sieht, werden trüb vor Kummer. Und doch steckt in diesen Tränen auch etwas Heiliges: Sie sind ein Zeichen der Liebe, der Sehnsucht und des Verlustes. Man weint, weil einem etwas oder jemand wirklich wichtig war.
In den Klageliedern ist das Weinen kein Zeichen von Schwäche, sondern von Wahrhaftigkeit. Das Volk Gottes klagt nicht im Nichts, sondern vor Gott selbst. Es schreit seinen Schmerz zu dem, der allein Heilung schenken kann. So werden die Tränen zu einem Gebet ohne Worte – einem Schrei des Herzens, den Gott versteht, auch wenn kein Satz mehr möglich ist.
„Sich die Augen ausweinen“ kann jeder Mensch nachempfinden, der Leid erfahren hat – sei es durch Verlust, Schuld, Trennung oder Enttäuschung. Die Bibel zeigt: Auch solche Tränen haben ihren Platz. Sie sind kein Zeichen des Unglaubens, sondern Teil des Weges zur Heilung. Erst wer weint, kann loslassen und wieder hoffen.
Die Klagelieder enden nicht im Weinen, sondern in der Hoffnung, dass Gott sich wieder zu seinem Volk wendet. So werden selbst Tränen zu einem Teil der Beziehung zu Gott. Sie reinigen das Herz, öffnen Raum für Trost und erinnern daran, dass Schmerz und Glaube sich nicht ausschließen.
Wer sich „die Augen ausweint“, steht mit seinen Tränen also nicht allein. Gott sieht sie – jede einzelne. Und in seiner Gegenwart verwandelt sich das Weinen langsam in stilles Vertrauen. Denn wie der Psalmist später sagt: „Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten“ (Psalm 126,5).
Schreibe einen Kommentar